Viele Anleger, die noch nicht sehr lange an der Börse aktiv sind, tun sich schwer, Aktien zu bewerten. Ich möchte in dem Beitrag anhand einer kleinen Geschichte von André Kostolany etwas mehr Klarheit in den Zusammenhang von Börse und Wirtschaft, Aktienkursen und Unternehmenswert bringen und einige Ansätze zeigen, die dabei helfen, den Wert eines Unternehmens zu ermitteln. Und zum Abschluss wage ich eine kleine Fortsetzung der Story, wie Kosto sie heute sicher formuliert hätte.
„Mit der Wirtschaft und der Börse verhält es sich wie mit dem Mann und seinem Hund beim Spaziergang,“ philosophierte einst Börsenaltmeister André Kostolany. „Der Mann läuft langsam und gleichmäßig weiter. Der Hund läuft vor und zurück. Aber beide bewegen sich in dieselbe Richtung. Der Mann ist die Wirtschaft, der Hund die Börse.“ So wie es zwischen Wirtschaft und Börse ist, so ist es oft – wenn auch nicht ganz so zuverlässig – zwischen Unternehmen und deren Aktienkursen.
Wenn wir als langfristige Anleger an der Börse agieren, ist es das A und O, dass wir zwei grundlegende Sachen unterscheiden: Wert und Preis! Der Preis ist der Kurs, der momentan an der Börse ermittelt wird. Der Wert ist der Anteil an einem Unternehmen, den wir erworben haben. Und dieses Unternehmen hat ein Geschäft, Patente, Maschinen, Kundenbeziehungen, Mitarbeiter und vieles mehr. Diese Mitarbeiter schaffen die Werte! Und wir als Anteilseigner stellen das Kapital zur Verfügung und übernehmen Risiken.
Der Wert des Unternehmens entwickelt sich oft langsam und unspektakulär, so wie das Herrchen bei André Kostolany seinen Weg geht. Der Kurs macht hingegen mitunter wilde Ausschläge und zieht Anleger in den Bann – aber genau das ist der falsche Fokus. Warum sind viele Investoren mit Immobilien erfolgreicher als mit Aktien? Weil ihr Fokus auf dem Investitionsobjekt liegt: Welche Mieten kann ich in der Lage erzielen? Wie hoch ist das Risiko, dass die Wohnung nicht vermietbar ist? Wie viel muss ich in die Renovierung stecken? Gibt es bisher nicht entdeckte Schäden, die mir der Verkäufer verschweigt? Ein Immobilien-Anleger sieht nicht täglich einen anderen Preis für sein Haus – und genau deshalb schläft er ruhiger, und genau deshalb ist er oft der bessere Investor.
Lernen wir also vom Immobilien-Investor: Schauen wir mehr auf das Objekt als auf den Preis! Der Preis sollte im Idealfall uns beim Kauf und Verkauf interessieren. Dazu zunächst mal zwei Empfehlungen. Das eine sind die Anlegerforen der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK). Zusammen mit Jonathan Neuscheler und der SdK habe ich vor rund 2,5 Jahren ähnliche Veranstaltungen, nämlich das Privatanlegerforum, veranstaltet. Dabei haben sich ein oder zwei Unternehmen (unter anderem Bechtle, Linde, Audi und Adidas) an einem Abend vor bis zu 300 Interessierten präsentiert und standen potentiellen Anlegern Rede und Antwort. Die SdK führt diese Reihe nun digital weiter. Nutzt die Gelegenheit und informiert Euch darüber, wie die Unternehmen ihr Geld verdienen, welche Zukunftsaussichten diese haben, aber auch mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen haben. Ich kann für mich nur sagen, dass die Organisation dieser Veranstaltungen mir sehr dabei geholfen hat, die Unternehmen, die sich präsentiert haben, viel besser zu verstehen. Bei Bechtle war ich schlussendlich so überzeugt, dass ich auch investiert habe und heute noch investiert bin!
Eine zweite Möglichkeit sind Anlegertage und Hauptversammlungen. Da diese aktuell ja vornehmlich digital stattfinden, bieten sie uns Privatanlegern die Chance, sich zu informieren. Wenn Ihr noch keine Aktien einer Gesellschaft habt, könnt Ihr gerne auch anfragen, ob Ihr Gästekarten bekommen und so ebenfalls an der HV teilnehmen könnt.
Die Beschäftigung mit dem Unternehmen, mit seinem Geschäftsmodell(en) und der Strategie ist die Basis für die im nächsten Schritt anstehende Bewertung der Gesellschaft. Hier gibt es verschiedene Ansätze und nicht alle ergeben für jedes Unternehmen Sinn. Ich möchte die Ansätze hier kurz vorstellen und Euch einfach ein paar Ideen geben, wie man sich dem Thema nähern kann. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Schreibt doch in die Kommentare, wenn Ihr zu dem ein oder anderen Ansatz mal einen ausführlicheren Beitrag wünscht. Wenn ich bereits ausführlicher über die Themen geschrieben habe, so habe ich die Artikel verlinkt.
Für viele ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) einer der ersten Berührungspunkte mit einer Unternehmensbewertung. Dabei wird der Kurs durch den anteiligen Gewinn je Aktie dividiert. Je niedriger das KGV, desto günstiger ist eine Aktie bewertet. Aber das KGV ist von Branche zu Branche verschieden und letztendlich können sowohl ein gesunkener Kurs (der vielleicht auf eine verschlechtere Geschäftslage hindeutet) als auch steigende Gewinne für ein sinkendes KGV sorgen. Die Aussagekraft und Verwendung des KGVs habe ich bereits detailliert in einem Beitrag erläutert.
Firmen mit starkem Gewinnwachstum wird oftmals ein höheres KGV zugestanden, denn steigende Gewinne bedeuten in Zukunft – bei gleichem Kurs – ein niedrigeres KGV. Ein Beispiel für eine Firma, deren Gewinne stark wachsen:
2019 | 2020 | 2021e | 2022e | 2023e | |
Gewinn je Aktie | 3,00 € | 3,60 € | 4,39 € | 5,18 € | 6,43 € |
KGV bei Kurs 100 € | 33,3 | 27,8 | 22,8 | 19,3 | 15,6 |
Gewinnwachstum p. a. | 20 % | 20 % | 22 % | 18 % | 24 % |
PEG-Ratio | 1,60 | 1,34 | 1,10 | 0,93 | 0,75 |
Hier zeigt sich, dass die Aktie zum Beispiel trotz eines 2020er-KGVs von 27,8 attraktiver ist als eine vergleichbare Aktie mit KGV 20, deren Gewinne aber stagnieren. Denn letzere Aktie hat auch für 2023 ein erwartetes KGV von 20 (der Gewinn bleibt ja gleich).
Ein Wort noch zu Dividenden und der Dividendenrendite als Auswahlkriterium: In den kommenden Wochen schütten ja viele deutsche Gesellschaften wieder ihre Dividenden aus. Das führt gerade immer wieder bei Einsteigern dazu, blind Werte mit hoher Dividendenrendite zu kaufen – aus zwei Gründen: Erstens ist vielen nicht bewusst, dass der Kurs am Tag des Dividendenabschlags ceteris paribus um den Dividendenbetrag fällt, es also ein Nullsummenspiel ist. Zweitens sagt die Höhe der Dividende – ohne Betrachtung weiterer Faktoren – nichts über den Wert des Unternehmens aus. Wer sich näher damit beschäftigen möchte, dem sei unbedingt das Buch „Cool bleiben und Dividenden kassieren“ von Christian W. Röhl empfohlen. Was bei der Betrachtung der Dividenden allerdings hilft, ist, wenn man sich Jahr für Jahr die Summe der erhaltenen Dividenden notiert. Diese schwankt in der Regel deutlich weniger als die Kurse und vermittelt auch viel mehr ein Gefühl einer Beteiligung am Unternehmen.
Was aber tun, wenn man in eine junge, hoffnungsvolle Gesellschaft investieren möchte, die noch gar keine Gewinne erzielt? Hier dient der Umsatz als Richtschnur für einen Vergleich. Dividiert man den Kurs durch den anteiligen Umsatz je Aktie (als Umsatz bzw. Umsatzerwartung der Firma durch Anzahl der Aktien), so kommt man auf das Kurs-Umsatz-Verhältnis, kurz KUV. Etablierte Firmen haben in Abhängigkeit von der Gewinnmarge und vom Wachstum her in der Regel KUVs im unteren einstelligen Bereich. SAP hat beispielsweise für 2021 ein KUV von 4,6, Siemens von 1,9 oder Linde von 4,8. Junge Firmen, die hingegen stark wachsen, wie etwa Fiverr (29) haben aktuell KUVs im zweistelligen Bereich. Es gab aber auch schon Zeiten wie etwa 2019, als Fiverr nur mit einem 6,8er KUV gehandelt worden war.
Warum extrem hohe KUVs bei einigen gehypten Aktien aktuell so gefährlich sind, zeigt die folgende Tabelle. Selbst wenn der Umsatz pro Jahr um 50 % steigt, so braucht es beispielsweise bis 2029, um von einem 100er-KUV (wie es einige New Energy Firmen hatten) auf das KUV eines normalen Industriekonzerns zu kommen (Kurs im Beispiel: 10 €):
2021 | 2022 | 2023 | 2024 | 2025 | 2026 | 2027 | 2028 | 2029 | |
Umsatz in Mio. € | 10,0 | 15,0 | 22,5 | 33,8 | 50,6 | 75,9 | 113,9 | 170,9 | 256,3 |
Umsatz je Aktie in € | 0,10 | 0,15 | 0,23 | 0,34 | 0,51 | 0,76 | 1,14 | 1,71 | 2,56 |
KUV | 100,0 | 66,7 | 44,4 | 29,6 | 19,8 | 13,2 | 8,8 | 5,9 | 3,9 |
Das bedeutet, dass im Beispiel bereits die Entwicklung bis 2029 im Kurs mehr oder minder enthalten ist. Damit der Kurs weiteres Potential haben soll, müsste die Firma noch stärker wachsen!
Eine weitere, deutlich arbeitsintensivere Methode, ist die Arbeit mit dem Cashflow. Im Video mit Jonathan Neuscheler hatte ich das Thema ja ausführlich besprochen. Ein konkreter Weg, um zu sehen, ob eine Firma günstig bewertet ist, ist das Discounted Cash Flow (DCF)-Modell. Kurs gesagt: Dabei werden künftige Cash Flows auf den heutigen Zeitpunkt abgezinst. Es wird als der heutige Wert künftiger Zahlungsströme ermittelt. Diese Methode ist sehr professionell, aber – wie alle anderen Bewertungsmethoden – hängt die Qualität des Ergebnisses vor allem davon ab, wie gut die Schätzungen der künftigen Umsätze, Gewinne und Cash Flows gelingen. Bei der DCF-Methode kommen noch einige Faktoren mehr hinzu, beispielsweise welcher Zinssatz für die Abdiskontierung verwendet wird.
Eine weitere Möglichkeit ist die Bewertung einzelner Unternehmensteile und anschließende Addition der Werte. Spalten Firmen ganze Teile ab, wie zuletzt zum Beispiel Siemens mit Siemens Healthineers und Siemens Energy, können Werte gehoben und sichbar gemacht werden und die Aktionäre profitieren.
Und wie hätte der gute André Kostolany die Geschichte heute wohl fortgesetzt – in etwa so: „Und lasst den Hund nicht von der Leine, sonst jagt er schnell einige Straßen weiter die Katze Hydrogen. Das Kätzchen hat nichts besseres zu tun, als beim Herrchen Schutz vor dem Hund zu suchen.“ Und so sind Ende der 1990er und Anfang der 2000er viele Wasserstoff- und Brennstoffzellenwerte nach steilen Kursanstiegen wieder dorthin zurückgekehrt, wo sie gestartet waren.